marcelmauss.com ist eine internationale Plattform, die sich Forschungen zur Durkheimschule und ihrer Wirkungsgeschichte widmet. Unser Ziel ist es, eine möglichst umfassende, interdisziplinäre Perspektive auf die Durkheimiens und die Konsequenzen ihrer Theorie für die Art und Weise, wie wir Gesellschaft, Praxis und Technik konzipieren, zu entwickeln. Dabei zeigen wir auf, dass Émile Durkheim, sein Neffe Marcel Mauss sowie ihre Kollegen und Schüler für die Entwicklung zeitgenössischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorieangebote – seien dies der »ontologische«, der »sensorische« oder der »praxeologische« »turn« – eine herausragende Rolle gespielt haben, die bislang nur unzureichend aufgearbeitet ist. Es ist uns dabei ein Anliegen, die kolonialen Bedingungen des Projekts aufzuarbeiten und den Anspruch der Durkheimiens, die westliche Vernunft zu dezentrieren, für aktuelle, dekoloniale Ansätze fruchtbar zu machen.
Das Kategorienprojekt der Durkheimschule war im Selbstverständnis der Durkheimiens (Émile Durkheim selbst, Marcel Mauss, Henri Hubert, Stefan Czarnowski, Marcel Granet, Celestin Bouglé, Antoine Bianconi u.a.) ein philosophisches Gemeinschaftsprojekt, das ein Update der rein heuristisch verstandenen Kategorienlehre Aristoteles‘ einerseits und eine Alternative zur Kategorienlehre Kants, die sich auf das personale Subjekt beschränkte, andererseits darstellen sollte.
Obwohl die Hauptwerke von Émile Durkheim und Marcel Mauss weithin bekannt und kommentiert sind, bleibt eine Auseinandersetzung mit ihrem gemeinsamen, philosophischen Vorhaben und (wieder zu entdeckendem) Erbe die Sache weniger Spezialisten und findet weder in der Philosophie noch in den Sozialwissenschaften statt. Diese Vernachlässigung hat immer wieder zu Missverständnissen in der Re-Interpretation der Schriften von Mitgliedern der Durkheimschule geführt. Im Rahmen unserer gemeinschaftlichen Arbeit soll diese Vernachlässigung korrigiert werden, die nicht zuletzt in der Überbetonung der Bedeutung einzelner Forscherpersönlichkeiten begründet ist. Durch die Publikation einer Anthologie der zentralen Texte der Durkheimschule soll dieses philosophiegeschichtlich einmalige Kollektivexperiment aufbereitet werden. Damit werden die argumentativ stärksten und wirkmächtigsten Texte zu den einzelnen Kategorien (Gattung, Kausalität, Quantität, Zeit, Raum, Dualität, Totalität, Substanz, Person) erstmals auf deutsch in synoptischer Gesamtschau vorgelegt und im Verlag Matthes & Seitz Berlin veröffentlicht.
Die Homepage marcelmauss.com wird in diesem Kontext dazu genutzt, einzelne Positionen, Texte und die lange überfällige Edition des Kategorienprojekts dar- und vorzustellen.
Unser gemeinsamer theoretischer Ausgangspunkt ist, dass die französische Soziologie und ihre ethnologische Wendung zur Sozialanthropologie bei Émile Durkheim als philosophischer Entwurf entstanden ist, der sich in seiner konstitutiven Phase explizit als philosophisches Unternehmen zur Aufhebung der Philosophie deklarierte und sich insbesondere durch Marcel Mauss zu einer ethnographischen Umsetzung verpflichtete – mit bis heute fortwirkenden Debatten in der Sozialanthropologie, Wissenssoziologie und Wissenschafts- und Technikforschung. Die Debatten um den Status der Soziologie im Verhältnis zur Philosophie waren dabei in ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts stets geprägt von grundsätzlichen Fragen, die auch heute noch kontrovers diskutiert werden: Sind die Kategorien des menschlichen Verstandes a priori gegeben oder verändern sie sich historisch und im Austausch mit dem kulturell Anderen? Ist die menschliche Intelligenz ursprünglich sozial oder technisch? Wie begegnet man dem kulturell Anderen? Was ist der Ausgangspunkt des philosophischen Arbeitens: praxis oder theoria? Wie verhalten sich Wissenschaft, Gesellschaft und Technik zueinander?