Die zeichnet die historisch-systematische Rekonstruktion des Kategorienprojekts nach, indem sie sich nach systematischen Schwerpunkten gliedert, denen jeweils ein bis zwei zentrale Texte mit zusätzlich ergänzenden kleineren und unbekannteren Arbeiten beigefügt werden. Der Anthologie ist Marcel Mauss‘ Text »In memoriam« vorangestellt, der die Geschichte der Durkheimschule nachzeichnet und diejenigen Mitglieder vorstellt, die den ersten Weltkrieg nicht überlebten.
Der einschlägige Aufsatz zur Klassifikation (Durkheim und Mauss 1903a) kann als Auftakt des Kategorienprojekts gelesen werden, auch wenn Durkheim bereits in den Schriften zur Arbeitsteilung das Projekt vorbereitet. »Klassifikation« stellt als solche keine eigenständige Kategorie dar, aber klassifikatorische Praktiken führen zu sozialen Einteilungen, die sich wiederum in kategorialen Unterscheidungen, wie »Genus« und »Spezies« kristallisieren. Das Projekt, soziologische Kategorien und ihre Genese zu untersuchen, beginnt daher mit klassifikatorischen Praktiken. In der Anthologie wird »Über einige Formen primitiver Klassifikation« durch editorische Vorarbeiten ergänzt. Diese bestehen aus Briefen Durkheims an Mauss (Durkheim 1998), die Einleitung in die Rubrik Religiöse Vorstellungen der Année Sociologique (Durkheim und Mauss 1903), Rezensionen (Hubert 1903; Mauss 1903; 1904) und aus der Einleitung die Hubert der Übersetzung des Manuel d’histoire des religions voranstellte (Hubert 1904). Dort weist Hubert das Heilige als Kategorie im aristotelischen Sinne aus (ebd. XLVII).
Klassifikation als grundlegendes soziales Phänomen wird in Robert Hertz Die Rechte und die linke Hand (Hertz 1909) erneut aufgegriffen. Dualität, die Praxis des Zählens und die Zahl im allgemeinen werden dort Resultat sozialer Praktiken gedeutet (Hubert 1905; 1907; Mauss 1904).
Émile Durkheim und Marcel Mauss
(1903. ‘De quelques formes primitives de classification’, AS 6, 1-72.)
Robert Hertz
(1909. ‘La prééminence de la main droite, Étude sur la polarité religieuse’, RP 68, 553-580.)
Kausalität und Kraft sind grundlegende Kategorien, die Mauss und Hubert in ihrem Aufsatz über Magie (1904) behandeln. In der Anthologie veröffentlichen wir eine Vorstudie Mauss, die vor kurzem von Jean-François Bert und Nicolas Meylan kommentiert und ediert wurde. Mauss zeigt, inwiefern Magie als soziales Phänomene bestimmte Vorstellungen von Kraft und Kausalität hervorbringt, die wiederum auf der allgemeinen Vorstellung des mana basieren. Diese Vorstellung ist es, die letztlich Beschreibungen von Wirksamkeit – seien sie wissenschafltich oder religiös – überhaupt ermöglichen. Die Genese der Kategorie der Kausalität ist daher ein soziales Phänomen. Die Rezensionen Mauss’ (Mauss 1903b; 1905b; 1910b; 1910a) zeigen, dass die Theorie der Efferveszenz, die Durkheim in den Elementaren Formen prominent macht, auch auf Vorarbeiten Mauss’ basiert.
Marcel Mauss
(‘Réduction des divers éléments de la magie à la notion de pouvoir et de force‘, in: Revue du Mauss, n°45, 2015, L’esprit de jouer, donner, s’adonner, Paris: La Découverte, 266-296)
Die Kategorie der Zeit wird in der bislang noch nicht auf deutsch erschienenen Studie Henri Huberts (Hubert 1905) behandelt, deren Vorbereitung sich in der Vielzahl an Rezensionen ausdrückt, die römische, keltische, germanische, griechische und indianische Riten, Mythen und Jahresabläufe umfassen (Hubert 1901e; 1901a; 1901b; 1901d; 1902; 1903b; 1905; Mauss 1904b; 1904a). Die Rezension des Textes durch Mauss (Mauss 1907b) und die Briefe Mauss’ an Hubert (Mauss 1905a) positionieren den Text innerhalb der Durkheimschule und ihres Verhältnisses zur Philosophie. Insbesondere die Bestimmung der Zeit in Bergsonschen Begriffen gab Anlass zur Diskussion zwischen den »Arbeitszwillingen« Mauss und Hubert. Hubert schafft es allerdings auf interessante Weise Bergsons Zeitkonzeption zu soziologisieren, ohne dabei die Durkheimsche Programmatik aus dem Blick zu verlieren. Die Kategorie der Zeit ist Ausdruck des sozialen Rhythmus und dient daher, wie Jean-François Isambert schreibt, als »operating system« der Gesellschaft.
Henri Hubert
(1905. ‘Étude sommaire de la représentation du temps dans la religion et dans la magie’, Annuaire de l’École pratique des Hautes-Études, Section des Sciences Religieuses, 1-39.)
Die Kategorien des Rhythmus (Hubert 1901c) und der Quantität werden in der ersten Phase des Kategorienprojekts durch die soziale Morphologie (beispielsweise der Eskimos) bestimmt (Durkheim 1899; Mauss 1903, 1904, 1907; Mauss and Beuchat 1906).
Marcel Mauss und Henri Beuchat.
(1906. ‘Essai sur les variations saisonnières des sociétés Eskimos, Étude de morphologie sociale’, AS 9: 48-132.)
Der Kristallisationspunkt von Durkheims Erkenntnistheorie besteht sicherlich in Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1912, 2017), das in Ausschnitten in die Anthologie aufgenommen wird. Die zahlreichen Vorarbeiten zum Totemismus zeigen, inwiefern dieses Buch auch Ausdruck der Arbeit eines Kollektivs ist. Gleichzeitig betont Durkheim die Eigenständigkeit seines Ansatzes, indem er die Rezensionen Lévy-Bruhls und Frazers (Durkheim 1913b; Mauss und Durkheim 1913) mit Selbstrezension der Elementaren Formen ergänzt. Diese Praxis der Selbstrezension zeigt die Notwendigkeit der Durkheimiens an, ihre Positionen und ihre Methodik immer wieder aufs Neue zu erläutern, sich abzugrenzen und v.a. Missverständnisse aufzuklären.
Émile Durkheim
(1912. Les formes élémentaires de la vie religieuse, le système totémique en Australie. Paris: Alcan
[Totalität: 2. Buch, Kapitel 7: Genese des Begriffs des Totemprinzips oder des Mana (außer erster Absatz);
Kausalität: 3. Buch, Kapitel 3: Die Mimetischen Riten und das Prinzip der Kausalität (außer römisch I);
Zusammenfassung des sozialen Ursprungs der Begriffe/Kategorien)]
Henri Hubert und Marcel Mauss
(1908. ‘Introduction à l’analyse de quelques phénomènes religieux’, RHR 58, 163-203 [Oeuvres II, 195-227])
Dieser Teil der Anthologie umfasst die gesamte historisch-systematische Entwicklung des Kategorienprojekts und zeigt, inwiefern sich Schwerpunkte geändert haben und institutionelle Schwierigkeiten überwunden worden sind. Die Diskussion Durkheims in der Société française de la philosophie (Durkheim 1913a) zeugt vom Konflikt mit der Philosophie und offenbart, dass Durkheim gegen Missverständnisse ankämpfte. Die Kontroversen mit Philosophen wurden vielfältig anhand verschiedener Phänomene geführt: Die Diskussion des Verhältnisses von Freiheit und Sprache (Mauss 1921) sowie der Theorie Lévy-Bruhls (Mauss 1969) sind im besonderen Maße exemplarisch. In beiden Fällen verteidigt Mauss die These des sozialen Ursprungs der Kategorien vehement. Die Durkheimiens nahmen aber auch die internationalen Entwicklungen der Sozial- und Religionsphilosophie wahr, was sich in den Rezensionen Ranulfs, Cassirers, Ogdens und Schelers zeigt (Mauss 1925b; 1925a).
Émile Durkheim
(1913. ‘Le problème religieux et la dualité de la nature humaine’, Bulletin de la Société française de Philosophie 13: 63-113.)
Wurde die Psychologie vor dem ersten Weltkrieg noch vornehmlich als Konkurrentin wahrgenommen, so beschreibt Mauss sie in Rapports réels als Disziplin, die wesentlich zum Studium des homme total beiträgt, auch wenn klar zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen unterschieden werden muss (Mauss 1924; 1933). Mauss öffnete die Soziologie daher für die Psychologie (immerhin war er 1923 Präsident der Société de Psychologie), war sich aber auch bewusst, dass es der Soziologie vorbehalten bleiben muss, kollektive Phänomene zu untersuchen.
Marcel Mauss
1924. ‘Rapports réels et pratiques de la psychologie et de la sociologie’, JP 21: 892-922.
Mauss, M. 1933 [1931]. ‘Contributions aux discussions sur les présentations de M. Pierre Janet “L’individualité en psychologie” et de Jean Piaget »L’individualité en histoire, l’individu et la formation de la raison«, in: Centre international de synthèse, Troisième semaine international de synthèse: l’individualité, 51-56, 117-121 [Oeuvres III, 298-302].)
Die Linguistik war von Beginn an ein Feld, dass den Durkheimiens empirisches Material lieferte und für die Entwicklung ihrer Thesen von großer Bedeutung war. Neben Mauss war es vor allem der Linguist Antoine Bianconi, dessen Arbeit wichtige Impulse lieferte, um die Kategorien in Afrika zu untersuchen (Bianconi 1910; 1913; Mauss 1907a; 1913). Mauss intensive Auseinandersetzung mit der Linguistik zeigen sich u.a. in den Diskussionen mit Charles Serrus und Antoine Meillet (Mauss 1923; 1934a). Meillet, der seit der fünften Ausgabe der L’année sociologique für die Rubrik ›Linguistik‹ verantwortlich war und Mauss Lehrer, rückte das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen und sprachlichen Phänomenen programmatisch in das Zentrum seiner Beobachtungen. Sprache wurde als soziales Phänomen verstanden.
Mauss, M. 1923. ‘Contribution à la discussion sur la présentation de M. Antoine Meillet “Le genre féminin dans les langues européennes”’, JP 20: 943-947.
Mauss, M. 1934. ‘Contribution à la discussion sur la présentation de M. Charles Serrus “La psychologie de l’intelligence et la linguistique”’, BSP 34: 33-37.
Der wichtige und bislang noch nicht übersetzten (sowohl im Englischen als auch im Deutschen) Artikel Le morcellement de l’étendue et sa limitation dans la religion et la magie Stefan Czarnwoskis (Czarnowski 1925), der die Qualität und Relationalität des religiösen Raumes untersucht, bildet das komplementäre Gegenstück zu Huberts Studie zur Zeit. Dies offenbart sich u.a. in Briefen des Hubert-Schüler Czarnowski an seinen Lehrer. Robert Hertz‘ Text Le culte alpestre de St. Besse untersucht bereits 1913 die Kategorie des Raumes im Piemont (Hertz 1913). Granets Untersuchung zu Rechts und Links in China verweist zurück auf Hertz Studie zur rechten und linken Hand. Granet nimmt in Hertz These wieder auf und wendet sie auf die Konzeption des Raumes in China an. Zusammengenommen zeigen die Studien der Durkheimiens, inwiefern Raum eine Kategorie ist, die wesentlich an soziale Praktiken geknüpft ist, die in Wechselwirkung zur jeweils vorherrschenden Kosmologie stehen.
Stefan Czarnowski
1925. ‘Le morcellement de l’étendue et sa limitation dans la religion et la magie’, Actes du Congrès international d’histoire des religions: tenu à Paris en octobre 1923: 341-359
Robert Hertz
1913. ‘Saint Besse, étude d’un culte alpestre’, RHR 67 (2): 115-180.
Marcel Granet
1933. ‘La droite et la gauche en Chine’, Bulletin de l’institut français de sociologie 3 (3): 87-116.
Seele, Substanz und Person sind Begriffe, die in der westlichen Geistesgeschichte eng miteinander verknüpft sind. Was Substanz ist, was Seele besitzt und wer zur Person erklärt wird, sind für die Durkheimiens Fragestellungen, die mittels einer Epistemologie, die bereits von einem Subjekt ausgeht, nur unzureichend beantwortet werden können. Es gilt daher, die Genese dieser Kategorien als historisch-kulturellen Prozess zu verstehen. Die Kategorie der Person findet sich bereits in den ersten Ausgaben der AS (Hubert 1900). Mauss arbeitet aber erst in den späten 20er Jahren und in den 30er Jahren an Vorträgen zur Person (Mauss 1929). Diese Arbeit mündet in dem vor allem auch für die Phänomenologie wirkmächtigen Text zur Person (Mauss 1938). Die Überlegungen, die dem Begriff der Materie vorangegangen sind (2015 [1941]) bilden gewissermaßen den Abschluss des Kategorienprojektes im engen Sinne. Mauss‘ Studie über den vedischen Begriff Anna-Viraj zeigt, inwiefern Rhythmus und Substanz ideale soziale Ordnungen repräsentieren und auf die brahmanische Philosophie zurückwirken. Dieses rekursive Verhältnis deutet Mauss auch für die europäische Geistesgeschichte an (Mauss 1911).
Marcel Mauss
(1938. ‘Une catégorie de l’esprit humain: La notion de personne celle de “moi”’, The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 68: 263-281 [Sociologie et anthropologie, 331-362].)
Marcel Mauss
(Mauss, M. 1945 [1939]. ‘Conceptions qui ont précédé la notion de matière’. in: Onzieme semaine international de synthèse, PUF, Paris, 15-23 + Diskussion [Oeuvres II, 161-168].
Marcel Mauss
1911. ‘Anna Viraj’, in: Mélanges d’indianisme offerts par ses élèves à M. Sylvain Lévi, Paris: Leroux, S. 333-341 [Oeuvres II, 593-600].