Die folgenden Texte stellen kleinere Arbeiten dar, die nicht in die Anthologie »Das Kategorienprojekt der Durkheimschule« aufgenommen wurden, aber dennoch zum Verständnis des Projekts beitragen oder dieses erweitern können.

Marcel Mauss (1928)
Wette, wedding. Revue historique de droit français et étranger

Der folgende Text ist eine kommentierte Übersetzung einer Zusammenfassung eines Vortrags, den Marcel Mauss am 10. Mai 1928 vor der Société d’histoires du droit gehalten hat. Die Zusammenfassung erschien in der Zeitschrift Révue historique de droit francais et étranger.[1] Der Vortrag ist ein in doppelter Hinsicht bedeutender Baustein in Mauss’ Oeuvre.[2] Zum einen offenbart sich hier eine Analyse der Gabe, die die Momente der Unsicherheit und des Risikos in den Vordergrund rückt – wie später in den Arbeiten von, u.a., Alain Caillé – betont. Jeder Vertrag (contrat), so Mauss, sei grundsätzlich eine Wette (pari) und gerade deshalb bedürfe es einer Garantie (gage).[3] Zum anderen lässt sich der Text in einer Schaffensphase Mauss’ verorten, in der er zunehmend an etymologischen Fragen interessiert ist, und sich nicht scheut trotz vergleichsweise dürftiger Datenlage weitreichende theoretische Folgerungen zu ziehen (vgl. Mauss’ Auffassungen, die dem Begriff der Materie vorangegangen sind [4]).

Wette, Wedding

Mauss versucht zu zeigen, wie leicht verschiedene Fragen der vergleichenden Semantik der die Institutionen und die Moral betreffenden Wörter zu beantworten sind, wenn man, statt lediglich die Wörter zu berücksichtigen, die Institutionen betrachtet, auf die sie hinweisen. Anstatt die sogenannten logischen (sens logiques[5]) und gegenwärtigen Bedeutungen in Betracht zu ziehen, sei es besser, über die verschiedenen Anspielungen und Funktionen nachzudenken, die die vergangenen juristischen Symbole aufweisen. Als Beispiel wählt er die Wörter mit dem Wortstamm *WEDH und im Besonderen das deutsche Wort WETTE, welches nur noch die Bedeutung Wette besitzt, sowie das englische Wort WEDDING, das nur noch Heirat bedeutet; die anderen germanische Sprachen hatten sich, genau wie jene, ebenfalls für eine der beiden Bedeutungen entschieden.

Eine einzige Sprache, Altenglisch, hat für eine längere Zeit die Erinnerung an beide Bedeutungen in einigen Wörtern beibehalten: WEDLOCK »ARRABO«[6] (aus einem Wortverzeichnis des elften Jahrhunderts); WEDFEL, WEDKEEPER. WEDD bedeutet auch heute noch manchmal wetten und selbst in einem Dokument aus dem sechzehnten Jahrhundert findet man noch: »Stane Robeson weddis ten markis aganes the saïd ten barrill that she would non mary the saïd king of Swane.«[7] Mary wird hier notgedrungen verwendet, um Zweideutigkeiten zu vermeiden. »Wed, to pledge, to bet« sagt noch das Whitby Gloss[8]. Aber die Bedeutung entwickelte sich beinahe ausschließlich in die letzte Richtung: Heirat. Diese Entwicklung vollzog sich allerdings über einen Zwischenschritt: die Heirat durch Übergabe einer Garantie, eines WED, eines WADIUM[9], eines Preises, wenn man es sehr unbefriedigend ausdrücken möchte. »To make (a woman) one’s wife by the giving of a pledge or earnest«, sagt das Wörterbuch von Murray[10]. Während dieser Zeit beschränkte sich die Bedeutung von wetten auf ein anderes Wort, BET, wahrscheinlich vom selben indoeuropäischen Wortstamm (*BWEDH, [11] aus dem *WEDH und *BETH wird).

Sogar das älteste Deutsch scheint die Bedeutung von WETTE als Heirat nicht beibehalten zu haben, sondern ausschließlich die von Garantie, WAD, WADIMONIUM, Einsatz, Wette (im Französischen drückt die Abstammung – Garantie (gage), Wagnis (gageure) – noch dieselbe Bedeutungsgeschichte aus). Nur das deutsche Recht hat eindeutig, sogar im Sachsenspiegel[12], eine reichhaltigere Bedeutung des Wortes WETTEN beibehalten. Einen Einsatz oder eine Strafe bezahlen: WETTEN UND BÜSSEN (STRAFGELD),[13] – annehmen (contracter) (in dieser Bedeutung vermutlich im Gegensatz zu LEISTEN, etc.) – Man sieht, wie die Gaben-Garantien (die MUNERA von Tacitus[14]) an die Familie der Braut in der vergangenen Epoche, als [Tacitus’] Textsammlung entstand, auf die WETTE der Heirat hinweisen konnten.

Aber wenn die ›Wette‹ aus dem englischen Wort WEDDING (beide Bedeutungen wurden im Altenglischen nachgewiesen) und die ›Heirat‹ aus dem deutschen Wort WETTE verschwunden ist, hat diese ihre Rolle doch fortgesetzt: Prozess, Vertrag der Rivalität in heute verschwundenen oder nur noch volkstümlichen Bräuchen. Der WETTLAUF (der Wettlauf des GRENZSTREIT) um die Bestimmung der Grenzziehung zwischen den ›Gemeinden‹, die Ungleichheit der Wette des Königs oder des Adels im Gegensatz zu der der Nicht-Adeligen (von Amira in Hermann Paul, S. 186) [15] zeigen, dass die WETTE-Wette (Wette-pari) eine volkstümliche Form des Vertrags ist. Der Brautmarkt mit seinen Versteigerungen (WETTSEIGERUNG [16]), der BRAUTLAUF der Schwaben ordnen die Heirat unter die Prüfverträge [17] ein. Zusammengefasst: Garantien, Wetten und Verträge lassen sich als Prüfungen einordnen. Darüber hinaus sind epische und mythische Motive der Prüfung des Verlobten, des Wettstreits und der Wahl reichlich vorhanden. Freya [18], die göttliche Braut, gilt als der ideale Einsatz der Asen [19] und der Götter. Wenn es so scheint, dass diese Bräuche eher aristokratisch waren, so wurden sie jedoch, hier wie anderswo, ausreichend volkstümlich; und sie haben weder ihre ursprüngliche Bedeutung noch ihren symbolischen Wert verloren. Mauss vergleicht diese letzten Tatsachen mit einer Anzahl indogermanischer Bräuche, etc. Er nimmt an, dass sie auf die vergangene Institution der »totalen Leistungen des agonistischen Typs« zurückgehen, den potlatch, wie die Indianer Nordwestamerikas sie nannten, Rivalitäten zwischen Vertragspartnern. Dieses System existierte mit Sicherheit bei den Indogermanen.

[1] Revue historique de droit français et étranger, Quatrième série, Vol. 7 (1928), 331-333. Alle folgenden Fußnoten sind Kommentare der Übersetzer Ole Reichardt, Johannes Schick und Mario Schmidt.
[2] Der Vortrag wird bereits im Gabe-Essay angekündigt: »Auf die Verwandtschaft der Wörter Wette und wedding möchten wir später noch einmal zurückkommen.« Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 153.

[3] Siehe auch Mauss, Marcel und Henri Hubert (2012): Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie. In: Mauss, Marcel: Schriften zur Religionssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 273: »In den Märchen erscheint der Vertrag in den weniger feierlichen Formen einer Wette, eines Spiels, als Wettlauf oder als bestandene Prüfungen, in denen der Geist, Dämon oder Teufel, gewöhnlich unterliegt.«

[4] Übersetzt von Johannes Schick und kommentiert von Mario Schmidt, Erhard Schüttpelz, Johannes Schick und Martin Zillinger in Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2015, 233-262.

[5] An dieser Stelle scheint Mauss eine Methodologie vorzuschlagen, die sich weniger um eine Analyse der Intension (bei Gottlob Frege »Sinn«) einzelner Wörter kümmert als um eine Betrachtung der Extension (bei Frege »Bedeutung«). Siehe zu diesem »schauenden« Charakter der mausschen Methodologie Schmidt, Mario und Emanuel Seitz (2015): Geld im Ganzen der Gesellschaft. Was Teile bei Mauss zu erkennen geben. In: Hans Peter Hahn, Mario Schmidt und Emanuel Seitz (Hg.): Marcel Mauss und das Geld. Berlin: Suhrkamp, 216-237

[6] Arrabo (lat.) bezeichnet das Pfand, das Handgeld, die Garantie.

[7] Eigentlich: „Steue Robesone weddit ten merkis of money aganes the sais tar barrel that scho suld nocht mary the said king of Swane”, in Peebles (1872): Charters and Documents Relating to the Burgh of Peebles, with Extracts from the Records of the Burgh. A. D. 1165-1710. Edinburgh, 262.

[8] Mauss bezieht sich auf Robinson, Francis Kildale (1876): A Glossary of Words Used in the Neighbourhood of Whitby. London: Trübner.

[9] Siehe Mauss (1990), 152-153: „Zwei Merkmale der wadiatio beweisen im übrigen das Vorhandensein jener Kraft der Sache. Erstens verpflichtet und bindet das Pfand (gage) nicht nur, sondern es verpfändet auch die Ehre, die Autorität, das mana dessen, der es gibt. Er bleibt solange in einer unterlegenen Stellung, bis er sich von seiner ‚Wette’ (engagement-pari) befreit hat. Denn die Wörter Wette und wetten, Übersetzungen für das juristische wadium, haben die Bedeutung sowohl von ‚Wette’ (pari) wie von ‚Pfand’ (gage). Das Pfand ist mehr der Preis eines Wettstreits (concours) und die Bestätigung einer Herausforderung als ein Mittel, den Schuldner zu nötigen; solange der Vertrag nicht abgeschlossen ist, ist dieser gleichsam der Verlierer der Wette (pari), der Zweite im Wettlauf (course), und so verliert er mehr, als er einsetzt, mehr als er zu zahlen; ganz abgesehen davon, dass er Gefahr läuft, die Sache zu verlieren, die er empfangen hat und die der Eigentümer so lange zurückfordern darf, solange das Pfand (gage) nichteingelöst ist.”

[10] Mauss bezieht sich hier auf James Augustus Henry Murray et al. (1928): A New English Dictionary on Historical Principles. Band 10, Teil 2 V – Z. Oxford: Clarendon Press, 245.

[11] Das Indogermanische hat einerseits u̯adh, „Pfand, Pfand einlösen”, sowie andererseits u̯edh-2, vor Nasalen u̯ed-, „führen; heimführen, heiraten (vom Manne)”.

[12] Der Sachsenspiegel (1220-1235) ist eines der bedeutendsten und ältesten deutschen Rechtsbücher.

[13] Im Mittelhochdeutschen bedeutet Gewette »Verpfändung, Geldbuße, Geldstrafe, Wette, Gerichtsgeld, dem Richter zu zahlendes Strafgeld, Vertrag, Kontrakt«.

[14] Siehe Tacitus, De origine et situ Germanorum, Kapitel 18, »Die Mitgift bringt nicht die Gattin dem Gatten, sondern der Gatte der Gattin. Eltern und Verwandte sind dabei und prüfen die Gaben (munera); die Gaben (munera) sind nicht zum Vergnügen des Weibs ausgesucht und nicht, um die frisch Vermählte zu zieren, sondern es sind Rinder, ein gezäumtes Pferd und ein Schild mit Frame und Schwert. Gegen diese Gaben (munera) wird die Frau empfangen, und auch sie selbst bringt ihrerseits dem Mann irgendetwas an Waffen: dies halten sie für das stärkste Band, dies für das geheime Heiligtum, dies für den göttlichen Eheschutz.« Munera (lat., Sg. munus) bezeichnet allerdings nicht nur Geschenke und Gaben, sondern auch andere Leistungen wie die Finanzierung öffentlicher Veranstaltungen, Beerdigungen, den Militärdienst etc. Munera sind demnach nichts anderes als das, was Mauss mit ›prestations‹ bezeichnet.

[15] »Andererseits sind die Bussen (wetten), welche Fürsten an den König zahlen, höher als die jedes andern Freien.« Von Amira, Karl (1900): Recht. In: Hermann Paul (Hg.): Grundriss der Germanischen Philologie, Dritter Band. Strassburg: Trübner, 51-222, hier 132.

[16] Vermutlich ein Schreibfehler Mauss’.

[17] Mauss spielt hier auf Bräuche an, bei denen sich die örtlichen Junggesellen in einem Wettspiel/-kampf messen, um die Dorfjungfrauen untereinander aufzuteilen (zum Beispiel durch Auktionen, bei denen Frauen mit Geld „gekauft” werden). Danach wird die erwählte Jungfrau zu gemeinsamen Unternehmungen herausgefordert. Ziel dabei ist es, vor einem Antrag zu prüfen, ob die jeweils als Ehefrau in Frage kommende Frau die vorherrschenden Sitten und Bräuchen akzeptiert.

[18] Nordische Göttin der Liebe und Ehe aus dem Göttergeschlecht der Wanen.

[19] Die Asen sind ein Göttergeschlecht der nordischen Mythologie.

Marcel Mauss (1943)
Auffassungen, die dem Begriff der Materie vorangegangen sind

Anstelle einer Vorbemerkung werde ich einige Überlegungen philosophischer Art unternehmen, denn die Philosophie führt zu allem (mène à tout), unter der Voraussetzung, dass man sie verlässt (à condition d’en sortir). Die Philosophien und die Wissenschaften sind Sprachen. Folglich gilt es lediglich die beste Sprache zu sprechen. Die Sprache selbst und die Kategorien des Geistes sind „Extrakte“ der Art und Weise des Denkens und Fühlens eines bestimmten sozialen Milieus. Sofern ich glaube, dass meine Überlegungen richtig sind, schließe ich mich der großen Tradition der Enzyklopädisten an, die wiederum der englischen Schule folgen. Wenn aber unsere Form (façon) des Denkens in jedem Moment auf alles zurückgeht, was das soziale Leben konstituiert, darf man auch die wissenschaftliche Geisteshaltung (mentalité) nicht davon trennen, weil sie aufs Engste mit der gesamten Geisteshaltung (mentalité) verknüpft ist. Was mich betrifft, so hatte ich die leidvolle Gelegenheit, die Auswirkungen sozialer Katastrophen auf den Fortschritt einer Wissenschaft zu beobachten. Während des Ersten Weltkrieges habe ich gesehen, wie Mitarbeiter, die mir sehr teuer waren, umgekommen sind und wie gleichzeitig der so schöne Schwung der entstehenden Soziologie ins Stocken geriet. Die Studie eines Denkens, wie jenes, das zum Begriff (notion) der Materie führt, ist rein historisch. Die aktuelle Auffassung (conception) – unsere genauso wie die des Mannes auf der Straße – hat nichts mehr gemein mit früheren Erklärungen. Für Menschen wie Jacob Böhme oder Cardan hatte das Bleivorkommen noch ein reales Leben und sie teilten damit einen Glauben, der unter den Bergarbeitern ihrer Zeit üblich war. Bis zum heutigen Tage finden sich analoge Ideen in Malaysia und bei einigen Volksstämmen, wo man sich ohne die geringsten Mühen tatsächlich vorstellt, dass eine Mine flüchten kann.

Man sieht wie alles gleichzeitig kontinuierlich und diskontinuierlich ist, kontingent und nur schwierig vorhersehbar. Alle Begriffe (notion) sind im ewigen Werden; die Sprache entwickelt sich ohne Unterlass weiter, daher ist es sehr aufschlussreich, die Geschichte eines Wortes (mot) zu studieren, das in verschiedenen Sprachen die Materie bezeichnet. Materie kommt von materia – weibliches Nomen im Lateinischem wie im Französischem – wohingegen materies (ebenso wie materia von mater stammend; erzeugende, weibliche Kraft) das Material hervorgebracht hat. Tatsächlich gehört materies zum Vokabular des Holzfällers und des Zimmermanns. Es bezeichnet das Herz des Baumes. Es war Holz, das Wesen aller Dinge: dauerhafter Ausdruck (expression solide), der Vorstellungen des Lebens hervorrief. Ebenso ist es der Faden, der das Gewebe des Stoffes formen wird. Es ist der gemaserte Marmorblock, aus dem der Bildhauer die Statue hervorruft, indem er der Maser(ung) folgt.

Das deutsche Wort Stoff, männliches Nomen, geht zurück auf das weibliche Estoffe, das auch Stuffe hervorgebracht hat.

Im Griechischen ist hyle durch seinen Ursprung identisch mit materies. Es ist auch ein Ausdruck des Handwerkers und des Künstlers: durch die Wirkung (effet) der Seele und des Handwerks extrahiert man etwas aus etwas. Man übersetzt also hyle mal mit materia, mal mit materies. Ich habe vor kurzem in einer Arbeit über die inhärenten Schwierigkeiten der graeco-latinischen Tradition gesprochen. Man darf nicht vergessen, dass die griechische Philosophie den Römern tatsächlich von Handlungsreisenden mitgebracht wurde. Außerdem hat der Magier Aristoteles mehr über die Materie sagen lassen, als er selbst tatsächlich davon gesprochen hat.

Die Gegenüberstellung von roher Materie des Mechanikers und belebter Materie des Handwerker/Künstlers ist sehr jung. In Frankreich gibt es neuerdings Écoles techniques, die das Materialwissenschaft (connaissance des matérieux) in ihr Programm aufgenommen haben. Die Technische Hochschule in Berlin, die nach dem Krieg entstanden ist, und andere entsprechende Einrichtungen zeugen vom wachsenden Interesse, das das Studium der Techniken hervorruft. Nach Halbwachs ist der Mensch ein Tier, das mit seinen Fingern denkt. Man kann im Werke Pierre Janets Formulierungen finden, die nicht weniger erstaunlich sind. Man hat versucht die hyle dem aktuellen Terminus (terme) der Technik anzunähern. Aber während die Technik der Schmiede sehr alt ist, sind das Legieren und das Gießen von Metallen sehr viel später erschienen und dies – der gängigen Meinung zum Trotz – außerhalb der europäischen Welt. Das Eisen ist seit 2500 v. Chr. bekannt und schöne Han Yang Bronzearbeiten entstanden 2200 v.Chr. Hier müssen unsere üblichen Vorstellungen (notions habituelles) noch umgekehrt werden.

Die Annäherung der hyle mit silva ist das Werk von Sir J. James Frazer und Lucien Levy-Bruhl. Das Wort wird außerdem als kollektiver Name für die verschiedenen Baumarten verwendet. Und dennoch ist die Annäherung äußerst interessant. Silva ist die keimende, weiblich konzipierte Kraft. Sie ist der Wald. In diesem Begriff des Waldes ist, wie in dem der Materie, etwas undiszipliniertes, etwas wildes, gefährliches, das aber auch beseelt, aufnahmefähig ist. Man findet dort die Idee des Hindernisses: Der Wald ist das, dem man etwas abgewinnen kann. Vor der Entdeckung der Metalle ermöglichte einzig das Feuer, dem Wald Boden abzugewinnen. Schließlich impliziert der Wald, wie Henri Hubert zeigte, den kontinuierlichen Gebrauch. Das Holz ging nicht nur dem Metall voraus, sondern es stellte in unseren Gebieten, wo eine gute Holzaxt über eine Metallaxt siegte, lange Zeit ein Hindernis für dessen Verbreitung dar.

Der Begriff (notion) hyle-silva ist ein grundlegender Begriff (notion fondamentale). Für unsere Vorfahren gab es zwei Welten, wie es sie auch noch für die Polynesier unserer Tage und für einige Völker Nordamerikas gibt. In der einen ist man in Sicherheit, das ist das Lager, in der anderen ist man draußen, die Gefahr lauert. Auf der einen Seite ist die hyle und auf der anderen der kosmos. Das Buch, das R. Hertz nicht mehr veröffentlichen konnte und von dem ich den Entwurf besitze, den ich eines Tages zu veröffentlichen hoffe, studiert auf bewundernswerte Weise die Unterscheidung zwischen der Welt der Geister und der Welt der Materie anhand des Begriffs der Sühne.

Bis hierin trat uns am deutlichsten die Dyade Materie-Form vor Augen. Die Opposition von Materie-Geist ist sehr viel jünger. Sie ist erst mit dem rein mechanischen und geometrischen Begriff (notion) der Materie aufgetreten, der vielleicht auf Galileo zurückgeht, aber in jedem Fall auf Descartes. Für mich taucht vor allem bei Spinoza die Opposition „Denken-Ausdehnung“ auf. Dieser Begriff (notion) der Materie, der von allen geistigen Elementen gereinigt wurde, hat sich in erster Linie in Frankreich und Großbritannien entwickelt. Das Werk M. Léon Brunschvicg zeigt auf bewundernswert klare Weise diese Revolution, die sich zwischen der alten und der neuen Auffassung der Materie vollzogen hat.

Aber sie erwarten von mir Tatsachen, die den Primitiven entnommen wurden, diesem Völkern, die so schlecht benannt sind, dass man sie alle auf den gleiche Rang stellt; die man ohne Geheimnis, ohne Schwierigkeit zu verstehen glaubt; von denen man glaubt, sie wären keine große Geister, alogisch oder mystisch, roh oder materiell. Seien Sie versichert, unter Ihnen gibt es genauso viele Abweichungen und mehr noch als unter uns und sie besitzen Fähigkeiten jeglicher Art. Dennoch befremden sie uns zutiefst. Sie lehren uns anders zu denken als als „homo sorbonnais“ oder „oxoniensis (oxford)“ dank anderer „homines sorbonniensis“.

Ich beschäftige mich seit langem mit dem Begriff (notion) der Nahrung. Dies ist eine Besonderheit der französischen Soziologen, die verschiedenen Kategorien des Geistes untersucht zu haben. Nahrung konnotiert also Subsistenz (das Wort selbst wird synonym mit Nahrung gebraucht) und Substanz oder Materie. Bei den Römern lag der Begriff der Subsistenz der Substanz zu Grunde. Man findet in der französischen Rechtssprache immer noch substantia, Substanz. In Sanskrit verläuft die Entwicklung analog. Das Wort hat seinen Sinn verändert mit der Gesellschaft, die sich veränderte. Man kennt die bewundernswerten Arbeiten Meillets über die Korrelation dieser beiden Entwicklungen. Unter denjenigen Begriffen, die der Materie zu Grunde liegen, ist der Begriff der Nahrung für mich einer der wichtigsten. Der Fachmann Gorce pflichtet meiner Ansicht bei. Die schönen Arbeiten von Spencer und Gillen über die Arunta in Australien und die von zeitgenössischen Ethnographen erlauben, unsere Abstammungstheorie der Begriffe der Materie und der Nahrung zu verallgemeinern. Man findet tatsächlich bei den meisten Primitiven unserer Tage dieselben komplizierten Initiationsriten bezüglich der Nahrung wieder. Mit ca. 21 Jahren, dem Alter in dem sich einige von uns auf das Staatsexamen (aggrégation) vorbereitet haben, diese anderer Initiation der „Zivilisierten“, erhält das sogenannte wilde Individuum, die Macht/Kraft/Vermögen (pouvoir) zu essen. Anders gesagt, er wird in die Nahrung initiiert, oder es ist sogar notwendig, dass der Eigentümer eines Totems ihm den Mund öffnet. Er kann vom heiligen Tier essen, sobald man ihm durch die Bilder oder durch die Masken offenbart hat, was das Totem ist. Bilder und Masken gewähren also eine Macht, einen neuen Atem in Bezug auf das Tier, über das sie die Macht besitzen. Der Materie wie der hyle liegen dieselben Begriffe der Spezifizität und der Allgemeinheit der Nahrung zu Grunde. Die Auffassungen einer geteilten Macht (pouvoir) und einer vagabundierenden/umherstreifenden Macht (pouvoir vagabond) haben schon immer die Geister geplagt, ebenso wie es deren Nachkommen der Fehler und die Erbsünde (péché) tun. Einer meiner Schüler, der Feldforschung in Saint-Therèse betreibt, wird bald soweit sein, seine Arbeiten über die Eskimos zu veröffentlichen, die zwischen Nahrung des Sommers und Nahrung des Winters unterscheiden. Alles in allem variiert der Begriff der Nahrung mit den Zeiten und Orten. Der Begriff der Substanz liegt ihm dabei immer zugrunde.

Es gibt bemerkenswerte Texte über den Unterschied zwischen Esser und Gegessenem. Die acht Bände von R. Hertz sind hier besonders hervorzuheben. Man findet dort Texte der Maori über den Begriff Polkro, wo es beispielsweise darum geht, dass die Götter fliehen müssen, „weil sie polkro geworden sind“. Halten wir fest, dass Pâpâ, Erde, auch weiblich bedeutet. Trou-Ta-Na-A-Ragla ist also die Tochter der Erde (Pâpâ). Er hat Inzest betrieben, indem er die Höhlen mit seiner Mutter wiedererschaffen hat. Man fragt sich, wie man den Sohn und die Mutter trennen kann. Der Gott des Windes, Ta-Cobi-Ma-Ta, hat sich daran versucht (oder das männliche Prinzip Rongo-Ma-Ta-Na). Die vier anderen Götter sind Memmen. Sie bevorzugen zu leben und gegessen zu werden, anstatt überhaupt nicht zu leben. Also leben sie jetzt in Form von Vögeln und Farnen.

Rongo-Ma-Ta-Na ist der Gott der Agrikultur; Tangaeli der Gott der Fische. Er besteht auf gleiche Weise fort, wie die Fische, die man isst. Die Rolle des Blutes ist im mythischen und rituellen Leben der Maori grundlegend. Man besitzt unzählige Anekdoten hierzu, wie beispielsweise jene, in der ein alter Maori zum englischen Siedler sagt: „Wir sind ein bisschen verwandt, meine Vorfahren haben die deinen gegessen.“

Es ist ein Fehler, wenn man die Mythen einzeln betrachtet, indem man sie von dem trennt, was ihnen vorangegangen ist und den Formen, die sie wiederum hervorgebracht haben. Sie bilden in Bezug auf ihre Kollektive ein Ganzes. Ein Mythos ist „eine Masche“ in einem „Spinnennetz“ und kein Artikel in einem Wörterbuch. Es gilt die Gesamtheit zu sehen und zu interpretieren. Einem deutschen Ausdruck folgend, sind alle Bilder Teil der gleichen Bildung. Ich habe vor, bald eine vollständige Tafel der Mythologie der Maori zu veröffentlichen, in der man die gesamte Kosmogonie, die gesamte Kosmologie und eine Klassifikation der Räume und Zeiten finden kann. Über allem thront/findet sich/(hat sich) (se place) der höchste Gott Hio (eingerichtet), der durch einen Kreis dargestellt wird. Weiter unten findet sich der Raum des Himmels, der durch die Götter des Regens und des Schönwetters bewohnt wird: Dies ist der Himmel der Seen. Anschließend steigt man hinunter zum Bereich, wo der Geist des Menschen geformt wird. Es folgt der Aufenthaltsort der Diener der niederen Götter. Danach findet man den Aufenthaltsort niederer Seiender. So steigt man bis zum Wohnort der Seelen hinab, die bereit sind, hervorzutreten. Und schlussendlich erreicht man den untersten Raum, wo die Geister neben den Dingen wohnen.

Des Weiteren ist der folgende Einblick in diese komplizierte Mythologie der Räume für unser Problem von Erkenntnisgewinn: Es gibt agrikulturelle Räume, unterhalb derer die Götter des Bösen zwei der Götter töten, die ihre Rolle als Esser unzureichend ausgeübt haben. Oberhalb liegt Koré, der Mythos allen Raumes, über den man wissen möchte, ob er auf die Welt geblasen hat, um sie zu schaffen, oder ob es die Welt war, die auf ihn geblasen hat (magaïa-Version des Mythos von Koré).

Es gibt zwei Wörter in Sanskrit, um Wasser zu bezeichnen: Auf das eine geht aqua zurück. Es bezeichnet das Wasser als ein Ding, das lebendige Wasser, das weibliche Wasser. Das andere hat zu Wasser, water geführt: Das unbelebte Wasser. Wir weisen darauf hin, dass eine Unterteilung in männliche und weibliche Elemente in all diesen Mythologien vollzogen wird. Der Mythos von Isis und Osiris ist hierfür aufschlussreich. Man kann sagen, dass Platon und Sokrates sich von allem ein bisschen inspirieren ließen, der Alexandrinismus hingegen bereits einen Verfall darstellt. Diesbezüglich kann man sich auf die interessanten Studien über die griechische Alchemie von MM. Bidez und René Berthelot beziehen.

Zusammenfassend erscheint der Begriff der Materie als lebendiges Prinzip und es ist – entgegen der landläufigen Meinung– auch für Aristoteles ein lebendiger Körper (corps vivant). Diese Formen sind sehr ungenau, aber kaum mehr als unsere eigenen Auffassungen der Materie.

Aus dem Französischen von Johannes F.M. Schick